Ach, wie war es ehedem mit dem Bezeichnen so bequem
von Bruno Strecker
Bis zum 3. Oktober 1990 war das Reden von Deutschland vor allem ein politisches Problem: Bei allen Vorbehalten gegenüber bestimmten Bezeichnungen für die beiden Staatsgebilde, die sich 1949 auf dem Boden des untergegangenen Deutschen Reichs gebildet hatten, wußte man sehr gut, was womit gemeint war. Mit der Vereinigung ist das politische Problem gelöst, doch haben sich genuine Bezeichnungsprobleme ergeben, die selbst professionelle Schreibern auf dem falschen Fuß erwischt haben.
Völkerrechtlich ist die DDR untergegangen, doch existiert ihr ehemaliges Territorium in zahllosen Übergangsregelungen als Einheit fort, ganz zu schweigen vom Fortbestand in den Köpfen all derer, deren Geschichte nicht erst mit der Vereinigung begann. "Wie soll man das da drüben benennen?" fragte schon bald die Frankfurter Rundschau (5. 12. 90, S. 11) und stellte fest: "Gegen Bezeichnungen wie ehemalige DDR, Ex-DDR oder das Kürzel FNL für fünf neue Länder setzten sich in den Zeitungen offenbar die neuen Bundesländer durch, meinte der Sprachforscher Johannes Latsch in einem Vortrag vor der Gesellschaft der deutschen Sprache (GfdS ) in Frankfurt am Main.
Ob dieser Trend bis heute angehalten hat, mag dahingestellt bleiben. Weit interessanter ist ein anderes Problem: Wie redet man von Ereignissen, die sich in einem der deutschen Teilstaaten vor der Vereinigung zugetragen haben? Grundsätzlich sollte dies keine Schwierigkeiten bereiten: Meint man die Bundesrepublik Deutschland, wie sie bis zum 3. Oktober 1990 bestand, kann man von der alten Bundesrepublik oder eben der Bundesrepublik Deutschland vor der Vereinigung sprechen. Die DDR kann man getrost als DDR bezeichnen, meinetwegen auch in Gänsefüßchen. Das Attribut alte erübrigt sich derzeit, denn eine neue DDR ist nicht in Sicht. Politiker und Journalisten tun sich damit jedoch schwer. In dem Bemühen, immer auch das Schicksal der DDR in Erinnerung zu bringen, greifen sie zu Formulierungen, die - zumindest nach überkommenen Standards - gründlich daneben liegen:
(1) Nachdenklich fügte er hinzu, es sei nicht alles schlecht gewesen, was das ehemalige DDR-Fernsehen gesendet habe.
Mannheimer Morgen 18.12.90, S. 24
Was hier mit das ehemalige DDR-Fernsehen zum Ausdruck gebracht wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, was zum Ausdruck gebracht werden sollte: Gesagt werden soll wohl, nicht alles, was das DDR-Fernsehen gesendet habe, sei schlecht gewesen. Mit ehemalig soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß dieses Fernsehen, wie die DDR insgesamt, nicht länger existiert. Das ehemalige DDR-Fernsehen, wenn es denn überhaupt dergleichen gibt, ist jedoch der MDR und nicht etwa das Staatsfernsehen der DDR. Das Attribut ehemalig dient dazu, einen Redegegenstand unter Rekurs auf eine Eigenschaft zu identifizieren, die ihm zu dem Zeitpunkt des berichteten Ereignisses nicht mehr zukam. Der Fehler - ich denke, es ist ein Fehler - liegt bei der zitierten Äußerung darin, daß die Verhältnisse zur Sprechzeit als Bezugspunkt für die Attribuierung genommen werden, wo korrekterweise die Verhältnisse zur Ereigniszeit zu berücksichtigen gewesen wären.
(2) Welche Vorstellungen erhält ein fünfzehnjähriger, sechzehnjähriger Schüler anhand seines Unterrichtsbuches über die ehemalige DDR, über den Charakter der deutschen Spaltung und des Strebens nach Einheit?
Rheinischer Merkur 26.10.90, S. 29
Auch hier darf man denselben Fehler vermuten: Gerade drei Wochen nach der Vereinigung kann mit die ehemalige DDR kaum gemeint sein, was gesagt wird, nämlich das Territorium, das früher Staatsgebiet der DDR war.
(3) Hintergrund der Strafverfahren sei die Abwicklung von Verträgen, die ehemalige DDR-Firmen mit Unternehmen in anderen Ostblockländern vor dem 1. Juli geschlossen hätten.
Berliner Zeitung 17.10.90, S. 1
Die Firmen, von denen hier die Rede ist, waren, sofern sie noch aktiv waren, zum Zeitpunkt der Drucklegung des Artikels ehemalige DDR-Firmen. Zum Zeitpunkt der Vertragsabschlüsse waren sie jedoch ohne jede Einschränkung DDR-Firmen.
(4) Dabei sei zu berücksichtigen, daß die frühere DDR unter den RGW-Ländern mit einer Produktion von fast 12 Millionen Uhren den zweiten Platz nach der Sowjetunion einnahm.
Frankfurter Allgemeine 14.09.90, S. 17
Bemerkenswert an diesem Bericht der sonst so sprachpflegerischen FAZ ist, daß er die fehlerhafte Charakterisierung bereits über zwei Wochen vor der Vereinigung vornimmt.
(5) Vor allem, als man unter Gorbatschow wieder so manches hätte lernen können, die einstige DDR-Führung sich aber längst selbst im Besitz allein seelig machender Wahrheit wähnte.
Berliner Zeitung 28.07.90, S. 9
Derselbe Fehler unter etwas anderen Rahmenbedingungen: nicht die DDR, wohl aber die gemeinte Führung ist zum Zeitpunkt der Äußerung tatsächlich eine einstige. Als solche hätte sie zur Zeit des beschriebenen Ereignisses jedoch schwerlich auf die Entwicklung Einfluss; nehmen können.
(6) In den bisherigen Verhandlungen hat sich gezeigt, daß die Unterhändler der DDR, auch Ministerpräsident de Maiziere (der sich persönlich mehr beteiligt, als es seiner Position als Regierungschef entspräche), viel von dem " retten " möchten, was die einstige DDR ausgemacht hat: gewiß nichts, was an Unterdrückung oder gar an Terror erinnert, aber doch manches von der Sozialpolitik, die in der DDR nach den auf dem Papier stehenden Ansprüchen gelegentlich der in der Bundesrepublik überlegen war, aber nicht realisiert werden konnte.
Frankfurter Allgemeine 28.07.90, S. 10
Der Gebrauch von einstige DDR in diesem Bericht, ist bemerkenswert. Als Bezugszeit wird hier tatsächlich eine Ereigniszeit gewählt, doch führt gerade dies zu derselben Fehleinschätzung, die bei (1) - (5) zu monieren war: Wenn denn gerettet wäre, was gerettet werden soll, würde es nur noch ein Territorium geben, das man als einstige DDR bezeichnen könnte. Doch, was gerettet werden soll, kann schon aus logischen Gründen nichts von dem sein, was diese einstige DDR dann ausmacht.
Zusammenfassend lassen sich drei Fehler feststellen:
In (1), (3) und (5) wird ehemalig bzw. einstig mit damalig verwechselt. Zu erklären ist das möglicherweise aus einer Befolgung des nicht immer glücklichen Stilprinzips "variatio delectat."
In (4) und (6) wird versucht, was mit den Satzadverbien früher und einst auszudrücken wäre, attributiv auszudrücken. Dabei werden die Skopusunterschiede zwischen Satzadverbien und Attributen verkannt: Während die Satzadverbien die Ereignisse insgesamt zeitlich situieren, bestimmen die Attribute allein die Zeit, in der die mit dem Nomen gegebene Beschreibung auf den gemeinten Gegenstand zutraf, -trifft oder -treffen wird.
In (2) wird versucht, was mit einen Satzadverb in einem nicht-restriktiven Relativsatz auszudrücken wäre, als Adjektivattribut zu formulieren: Die DDR, die es übrigens nicht länger gibt, ... Das ist in doppelter Hinsicht verfehlt, weil ehemalig nur restriktiv zu deuten ist und weil es zur Bestimmung des falschen Gegenstands führt.
Die Fehler von heute sind die Regeln von morgen, sagt man, und das ist - grosso modo - sicher nicht ganz falsch. Soll man deshalb annehmen, daß die Bedeutungen von ehemalig, einstig und früher im Wandel begriffen sind? Grundsätzlich auszuschließen ist das nicht, doch scheint mir einiges dagegen zu sprechen:
Die Fehler sind so häufig nicht. Die Belege aus dem Wendecorpus des IDS zeigen weit überwiegend "korrekte" Verwendungen.
Die Fehler treten auf, wo man sie erwarten darf: bei komplexen temporalen Bezügen. Hier verheddert man sich schon mal, ohne dass es zur Methode wird. Als Beispiel kann (6) dienen, wo eine zweite Gelegenheit zum selben Fehler - von der Sozialpolitik, die in der DDR nach den auf dem Papier stehenden Ansprüchen gelegentlich der in der Bundesrepublik überlegen war - nicht genutzt wurde.
Es ist kein einigermaßen homogenes neues Konzept zu erkennen. Was jeweils gemeint wird, variiert in Entsprechung zu den genannten Fehlertypen.
Die Bildungen sind nicht besonders produktiv. Zwar finden sich immer wieder Verwendungen von ehemalige, einstige oder frühere DDR im hier belegten Sinn, doch spricht niemand vom ehemaligen Dritten Reich oder der ehemaligen Weimarer Republik. Auch sagt niemand, er sei mit seiner einstigen Frau in die Ferien gefahren, wenn die Dame zur Zeit der Reise noch mit ihm verheiratet war. Die Häufung der Fehler gerade in Verbindung mit der DDR dürfte Gründe haben, die weniger mit einem generellen Bedeutungswandel als mit Vergangenheitsbewältigung zu tun haben.
Der Autor ist kommissarischer Leiter der Abteilung Grammatik am Institut für deutsche Sprache.