Alter, Sprache, Kommunikation:
Plädoyer für eine Gerontologische Linguistik
von Caja Thimm
Das Thema der älterwerdenden Nation füllt die Medien: Eine aktuelle ZEIT-Serie (»Alt - und dann?«), Fernsehdiskussionen, Belletristik (Betty Friedan 1995), Populärwissenschaften (Gronemeyer 1994) und Politik, alle sind sich über die Brisanz dieses Themas einig. Auch in einigen wissenschaftlichen Disziplinen (außerhalb der Gerontologie, die dieses Thema qua definitionem behandelt) werden Forschungsaktivitäten sichtbar. So wird seit einigen Jahren im SFB 245 (Heidelberg/Mannheim) »Sprache und Situation« (Teilprojekt B3/Kruse: »Partnerhypothesen und soziale Identität in Konversationen«) zur Frage des Einflusses der Partnererwartung »alt« auf verbale Interaktion zwischen den Generationen geforscht, und erst kürzlich erfolgte die Gründung eines interdisziplinären »Altersforschungszentrums« in Heidelberg (zur Konzeption: Abschlußbericht des Wissenschafts- und Forschungsministeriums Baden-Württemberg 1990).
Trotz vieler Anstrengungen aus der Gerontologie, das negative Altersbild zu ändern, ist der Tenor der Berichterstattung in den Medien auch heute noch vom Defizitmodell des Alterns geprägt und von »empörenden Begriffen« durchsetzt (Roloff 1990): »Krieg den Alten!« (Wiener 3, 1989; Die Woche, 20.10.1995), »Hilfe, wir vergreisen!« (die tageszeitung, 30.4.1993).
Bisher haben die deutschen Sprachwissenschaften das Thema Alter, Sprache, Kommunikation noch nicht entdeckt (s. Fiehler in diesem Heft). Dies steht im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Forschung, in der seit Jahren systematisch dazu gearbeitet wird (z.B. Konferenzen zur »Elderly Health Communication« in Großbritannien, USA und Kanada; s. Giles, Coupland und Wiemann 1990).
Die Brisanz der Umbrüche innerhalb der Altersgruppen und die folgenden Veränderungen gesellschaftlicher und individueller Kommunikationsprozesse erfordern m.E. dringend auch Beiträge aus den Sprachwissenschaften. Letztlich ist der Generationenkonflikt maßgeblich ein Kommunikationskonflikt, über dessen sprachliche Relevanz und Austragungsformen wir jedoch bisher kaum etwas wissen. Auch ist die soziale Kategorie »Alter« bisher in der sprachwissenschaftlichen Forschung nicht systematisch erhoben und geprüft worden. Ich plädiere daher für eine thematisch konzentrierte linguistische Forschung: Die Begründung einer Gerontologischen Linguistik wäre nicht nur zur Entwicklung von Forschungsfragen, sondern auch im Hinblick auf Kooperationen und Vernetzungen innerhalb des Themenbereiches »Alter - Sprache - Kommunikation« hilfreich.
Frage- und Problemstellungen einer Gerontologischen Linguistik
Im folgenden soll kurz skizziert werden, welche vielfältigen Frage- und Problemstellungen sich dem Bereich »Gerontolinguistik« zuordnen ließen.
- Sprach- und Kommunikationskompetenz im Alter
In diesem Zusammenhang wurde schwerpunktmäßig aus sprachpathologischer Sicht geforscht. Bisher gibt es allerdings nur wenige diagnostische Methoden auf linguistischer Basis zur Erfassung sprachlicher Korrelate (z.B. syntaktische und semantische Defizite) von Erkrankungen mit verschiedenen Demenz- oder Verwirrtheitsbefunden. Fortschritte in dieser Richtung könnten z.B. wichtige psycholinguistische Erkenntnisse für die Alzheimerforschung erbringen.
Neben den pathologischen Veränderungen sind altersbezogene Veränderungen in Sprache und Kommunikation des »normalen Alters« untersucht worden (Emery 1986). Allerdings gibt es kaum Studien, die z.B. die These von der »gelernten Hilflosigkeit« im Zusammenhang mit kommunikativer Kompetenz überprüfen.
- Agism und Sprache
Als zentraler Begriff für die negative sprachliche Darstellung des Alters hat sich das aus den USA stammende »agism« auch im deutschen Sprachraum eingebürgert. Wie einseitig ältere Menschen gezeichnet werden, zeigen Untersuchungen über Altersbilder in der politischen Sprache (Dieck 1987), in Kinder- und Jugendbüchern (Berger 1985), in Schulbüchern (Sticker 1988), und in ausgewählten Medien (Dierl 1989).
Stereotype Vorstellungen über andere haben maßgeblichen Einfluß auf soziale Verhaltensweisen, auch auf sprachliches Handeln. So hat das Bild vom defizitären Alter Auswirkungen auf die kommunikativen Beziehungen der Generationen: Alte Menschen gelten bei Jüngeren in vieler Hinsicht als eingeschränkt kommunikativ kompetent und egozentrisch in ihren Gesprächsinteressen. Stereotype werden in Gesprächen jedoch zumeist implizit geäußert (Thimm 1995b). Wichtig erscheint, daß trotz unzweifelhafter Veränderungen die Perzeption von Alter negativer ist als es die Fakten bedingen könnten: Ryan, Giles, Bartolucci und Henwood (1986) sprechen von einem Teufelskreis zwischen den äußerlichen Erscheinungen von Alter und der daraus folgenden Schlußfolgerung verringerter kommunikativer Kompetenz. Aber nicht nur Jüngere haben eine negative Einstellung zum Alter, auch Ältere äußern sich z.T. dezidiert abwertend (Thimm 1995a): Zu »den Alten« will man nicht gehören.
Der Bereich von Vorurteil und verbaler Interaktion ist auch unter Einbeziehung der amerikanischen Forschung das bisher am wenigsten bearbeitete Gebiet. Zwar existiert eine Vielzahl von Publikationen, die meisten beruhen jedoch auf dem Gesprächsmaterial einer einzigen Erhebung (Coupland, Coupland und Giles 1991). Es wäre daher besonders wünschenswert, mehr Daten und Ergebnisse aus verbaler Interaktion zu erhalten: Intergenerationenkommunikation und -konflikte innerhalb und außerhalb der Familie, Prestigeträchtigkeit sprachlicher Variation, aber auch Arzt-Patienten-Kommunikation sind m.E. wichtige Untersuchungsfelder und könnten nicht nur Ergebnisse für Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, sondern auch Ansätze für die Angewandte Linguistik erbringen.
- Pflegekommunikation und »baby-talk«
Wie stark stereotype Vorstellungen auch die verbale Interaktion in Institutionen beeinflussen, zeigt eine Vielzahl von Untersuchungen aus dem Bereich der Pflegekommunikation und der Spracheinstellungsforschung. Das von Ryan et al. (1986) entwickelte »communication predicament model« für Kommunikationen mit Älteren geht davon aus, daß ältere Personen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, sich in Kommunikationen zu entfalten, durch jüngere benachteiligt werden. Als Folge dieses Benachteiligungsprozesses leidet das Selbstbild älterer Personen ebenso wie die adäquate Wahrnehmung von älteren Personen durch jüngere. Voraussetzungen, die jüngere Personen in ihren Gesprächen machen, werden zur »self-fulfilling prophecy«.
Ganz besonders problematisch ist Kommunikation in Pflegekontexten. Hier sind die sprachlichen Beziehungen mit älteren Personen häufig durch einfache, undifferenzierte Sprache gekennzeichnet, die auch als »baby-talk« beschrieben wird (Caporael und Culbertson 1986).
Babysprache zeichnet sich durch den Gebrauch von überakkommodierenden verbalen Strategien wie langsamem, extrem emphatischem Sprechen aus, aber auch durch den Gebrauch von Diminutiva, vereinnahmendem »wir« und durch Kosenamen. Dieser in der neueren Forschung auch als »Patronisieren« bezeichnete Sprechstil wäre jedoch auch in alltäglichen Situationen zu prüfen, so kennen sicherlich die meisten von uns den Drang, mit Älteren lauter zu sprechen, auch wenn dies in den meisten Fällen weder notwendig noch angebracht ist.
- Feministische Ansätze
Bisher hat auch die feministische Forschung das Thema Alter nicht entdeckt, obwohl ja nicht zuletzt die größere Anzahl von Frauen in den hohen Altersgruppen wichtige Forschungsthemen für die Frauenforschung aufwirft. So ist z.B. eine kontrovers diskutierte, aber wenig belegte These, daß Frauen deswegen älter werden, weil sie andere kommunikative Kompetenzen, Interessen und Erfahrungen haben als Männer (Nussbaum 1983). Auch die Tatsachen, daß kommunikative Beziehungen im Alter zumeist gleichgeschlechtlich organisiert sind (Streeck 1988) und Mutter-Tochter-Beziehungen das hohe Lebensalter vieler Frauen prägen, wären auch aus der Perspektive der Frauenforschung wichtige Untersuchungsfelder.
- Interkulturelle Barriere zwischen Alt und Jung?
Nicht nur bezüglich der Forschungslage im allgemeinen, sondern auch im Hinblick auf eine theoretische Einbettung lassen sich Defizite konstatieren. Als einziges Modell zum Verständnis von Intergenerationenkommunikation wird die Hypothese von der »Interkulturalität der Generationen« diskutiert (Giles, Coupland und Wiemann 1990). Alte Menschen werden nach dieser Annahme nicht als »Subkultur« charakterisiert, sondern als eigenständige, abgrenzbare kulturelle Gruppe mit einer eigenen Geschichte, eigenen Werten und eigenen Problemstellungen. Kommunikation zwischen den Generationen wird von einer kulturellen Barriere dominiert. Sowohl alte als auch junge Menschen hätten nach dieser Theorie kulturelle Schranken auf kommunikativer Ebene zu überwinden.
Ein solcher Ansatz ähnelt der in der Geschlechterforschung über Jahre diskutierten These der Kulturunterschiede zwischen Frauen und Männern. Es wäre aufschlußreich, auch für die Kategorie Alter eine Debatte über angebliche Kulturunterschiede zu führen. Denn bei allen Parallelen zur Geschlechterforschung gibt es doch einen eklatanten Unterschied: Unser Geschlecht bleibt uns Zeit unseres Lebens als Identifikationsmerkmal erhalten, unser Jung-Sein jedoch nicht: der Alterungsprozeß betrifft uns alle, irgendwann.
Diese kursorischen Anmerkungen zu einem neuen Forschungsgebiet innerhalb der Sprachwisssenschaften sind als Anstoß gedacht. Die drängenden gesellschaftlichen Probleme im Umbruch der Generationen (Gronemeyer spricht von einem »Krieg der Jungen gegen die Alten«) suchen Antworten, auch von seiten der Kommunikations- und Sprachwissenschaften.
Literatur
Berger, Michael (1985): Zum Bild des alten Menschen in der Kinder- und Jugendliteratur unter besonderer Berücksichtigung des Kinderbuches. Informationen des Arbeitskreises Jugendliteratur 2, (S. 18-35), München.
Caporael, Linda und Culbertson, Glen (1986): Verbal response modes of baby talk and other speech at institutions for the aged. Language and Communication, 6 (1-2), 99-112.
Coupland, Nikolas/Coupland, Justine und Giles, Howard (1991): Language, society and the elderly: discourse, identity and ageing. Cambridge, Mass.: Blackwell.
Dieck, Manfred (1987): Die ältere Generation im Spiegelbild der großen Regierungserklärungen von 1949 bis 1987. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hg): Die ergraute Gesellschaft, (S. 189-218), Berlin.
Dierl, Reinhard (1989): Zwischen Altenpflegeheim und Seniorenstudium. Alter und Alte als Zeitungsthema. Schriften des KDA, Forum (11). Köln.
Emery, Olga (1988): Linguistic decreement in normal aging. Language and Communication, 6, 47-64.
Friedan, Betty (1995): Mythos Alter. Hamburg: Rowohlt.
Giles, Howard, Coupland, Nikolas und Wiemann, John (1990) (eds) Communication, health and the elderly. London: Manchester University Press.
Gronemeyer, Raimer (1994): Entfernung vom Wolfsrudel: Über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten. Düsseldorf: Fischer.
Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg (1990) (Hg). Einrichtung eines Zentrums für Altersforschung. Abschlußbericht. Stuttgart.
Nussbaum, John (1983): Relational closeness of elderly interaction: implications for life satisfaction. The Western Journal of Speech Communication, 47, 229-243.
Roloff, Eckart (1990): Das diffamierte Leben. Empörende Begriffe: Überalterung und Vergreisung. Sprachreport 1, S. 5.
Ryan, Ellen/Giles, Howard/Bartolucci, Gordon und Henwood, Karen (1986): Psycholinguistic and social psychological components of communication by and with the elderly. Language and Communication, 6(1-2), 1-24.
Sticker, Elisabeth (1988). Das Bild des Alters in Lesebüchern der 3. und 4. Klasse. Psychologie, Erziehung, Unterrricht, 35, 173-179.
Streeck, Jürgen (1988): Seniorinnengelächter. In: H. Kotthoff (Hg): Das Gelächter der Geschlechter: Humor und Macht in Gesprächen zwischen Männern und Frauen, (S. 54-77), Frankfurt: Fischer.
Thimm, Caja (1995a): Verständigungsprobleme in Gesprächen zwischen Jung und Alt. In: B. Spillner (Hg) Sprache: Verstehen und Verständlichkeit. Forum Angewandte Linguistik. (S. 89-95). Frankfurt/New York: Peter Lang.
Thimm, Caja (1995b): Intergruppenkommunikation, soziales Vorurteil und konversationale Implikaturen: Alt und Jung im Dialog. In: F. Liedtke, (Hg): Implikaturen: Grammatische und pragmatische Analysen. Linguistische Arbeiten, Bd. 343. (S. 187-208), Tübingen: Niemeyer.
Die Autorin ist Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 245 »Sprache und Situation«.(Univ. Heidelberg/Univ. Mannheim/IDS Mannheim)