Abstracts Deutsche Sprache 3/99

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Elke Donalies

Können Wortbildungsaffixe semantische Kerne sein?

Ein Diskussionsbeitrag zur Differenzierung der deutschen Affixe nach semantischen Kriterien

Abstract

Die semantische Analyse von expliziten Derivaten ergibt, dass die bisherige Dichotomie Transposition versus Modifikation nicht ausreicht. Zahlreiche Substantivderivate wie Lehrer, Lyriker, Frachter, Schönling, Sensibelchen, Konditorei und sämtliche desubstantivische oder deadjektivische Verben wie bedachen, entfremden, festigen lassen sich stimmig weder der Kategorie Transposition noch der Kategorie Modifikation zuordnen. Wortbildungsprodukte diesen Typs können nur plausibel erklärt werden, wenn man annimmt, dass nicht nur Wörter und Konfixe, sondern auch Affixe die Hauptbedeutung des komplexen Wortes tragen können, also semantische Kerne sind.

A semantic analysis of explicit derivatives shows that the usual dichotomy of transposition versus modification is not sufficient. Numerous derived nouns like Lehrer, Lyriker, Frachter, Schönling, Sensibelchen, Konditoreiand all denominal or deadjectival verbs such as bedachen, entfremden, festigen cannot be assigned to either of the categories transposition and modification. Wordformation products of this type can only be explained plausibly if one assumes that not only words and confixes, but also affixes can carry the main meaning of the complex word, and are thus semantic nuclei.


Susanne Günthner

Wenn-Sätze im Vor-Vorfeld:

Ihre Formen und Funktionen in der gesprochenen Sprache

Abstract

Der vorliegende Beitrag, der im Bereich der Syntax gesprochener Sprache angesiedelt ist, widmet sich der Analyse unverbundener wenn-Konstruktionen im gesprochenen Deutsch. Neben syntaktisch integrierten wenn-Sätzen werden im gesprochenen Deutsch unterschiedliche Typen von wenn-Konstruktionen verwendet, deren Apodosis die Verbstellung eines unabhängigen Hauptsatzes aufweist (z.B. "wenn du luscht hasch und=zeit, (0.5) wir machen morgen en kindergottesdienst (.) in der lutherkirche."). Einige dieser wenn-Konstruktionen sind durchaus (ohne Veränderung der referentiellen Bedeutung) ins Vorfeld umstellbar, während andere wiederum nicht bzw. nur unter Bedeutungsveränderung umformulierbar sind. Die Untersuchung dieser dem Vorfeld vorgelagerten wenn-Konstruktionen wendet sich schwerpunktmäßig folgenden Fragen zu: (i) Wie können nicht-integrierte wenn-Konstruktionen innerhalb der Topologie deutscher Sätze beschrieben werden? (ii) Welche Typen nicht-integrierter wenn-Konstruktionen treten in der gesprochenen Sprache auf? (iii) Welche Funktionen haben diese vorgelagerten wenn-Teilsätze?

This article is devoted to the syntax of spoken language, specifically to the analysis of unconnected wenn constructions in spoken German Alongside syntactically integrated wennclauses, different types of wenn constructions are used in spoken German in which the verb position in the apodosis is that of an independent main clause e.g. "wenn du luscht hasch und=zeit, (0,5) wir machen morgen en kindergottesdient (.) in der lutherkirche" ('If you would like to and have time, (0,5) we have a children's service tomorrow (.) at the Luther Church'). Some of these wenn constructions can be fronted without change to the referential meaning, while others cannot be moved or change their meaning when they are moved. The investigation of these fronted wenn constructions focuses on the following questions: (i) How are non-integrated wennconstructions to be described within the topology of German sentences? (ii) Which types of non-integrated wenn construction occur in spoken language? (iii) Which functions do these fronted wenn clauses have?


Karin Luttermann

Wie lang ist lebenslang?

Juristische Definitionssemantik und allgemeiner Sprachgebrauch

Abstract

Kritik an der Sprache von Gesetzen ist fast zeitlos. Ursächlich für Verständlichkeitsprobleme erscheint der fachsprachliche Zuschnitt. Unser Recht ist Juristenrecht. Juristen verwenden einen Ausdruck in rechtlicher Bedeutung. Laien kennen zwar die wörtliche Bedeutung, oft aber nicht oder nur unzulänglich den durch Definitionen in Gesetzen, Kommentaren und Urteilen geprägten juristischen Bedeutungsinhalt. Bespielhaft erörtert der Beitrag sprachwissenschaftlich, wie der Ausdruck lebenslange Freiheitsstrafe (§ 211 Abs. 1 StGB) im Strafrecht und von Laien benutzt wird. Dabei werden Unterschiede aufgezeigt und kritisch im interdisziplinären Rahmen gewürdigt: für die Linguisten und Juristen gemeinsam gestellte Aufgabe, an einer allgemein verständlichen Rechtssprache zu arbeiten.

Criticism of legal language is almost timeless. The cause of communication problems appears to lie in the technical meanings of words. Our law is lawyers' law. Lawyers use an expression in a legal meaning. Lay people know the literal meaning, but they frequently do not know or are not sufficiently familiar with the legal meaning which is shaped by definition in laws, commentaries and judgements. This article presents a linguistic discussion of how the expression lebenslange Freiheitsstrafe ('life sentence') (§ 211 section 1 of the German penal code) is used in criminal law and by lay people. Differences are pointed out and evaluated in an interdisciplinary framework, i.e. the task for linguists and lawyers to work together towards a generally understandable legal terminology.


Joachim Grzega

Sprachliche Kurzformen im geschriebenen österreichischen Deutsch

Abstract

Der Artikel will zeigen, dass sprachliche Kurzformen nationale Varietäten einer Sprache auszeichnen können, in diesem Falle das Österreichische Deutsch. Nach einer Definition des Begriffes sprachliche Kurzform wird anhand einer empirischen Studie, bei welcher das österreichische Wörterbuch und Regionalzeitungen als Korpus dienen, gezeigt, dass sich die unterschiedlichen Typen an Kurzformen in ihrem prozentualen Auftreten in der geschriebenen österreichischen Sprache von den Verhältnissen in Deutschland unterscheiden: Es treten generell mehr Kurzformen im Österreichischen Deutsch auf, und zwar insbesondere graphische Kurzformen. Anschliessend werden die Sachbereiche, in denen die Kurzformen auftreten, beleuchtet. Der letzte Teil wird dann den österreichisch-spezifischen Kurzformen gewidmet sein: Kurzformen bei Personenbezeichnungen, "Juristendeutsch", "falsche Freunde", inhärente Variation, Nonchalance und Kurzform der Kurzform.

The article shows that linguistic short forms can serve as characteristic features of national varieties of a language - in this case of Austrian German. After a definition of the term linguistic short form an empirical study, based on a corpus consisting of the Österreichisches Wörterbuch and a number of regional newspapers, demonstrates that the occurrence of various types of short forms in written Austrian German differs from the situation in Germany: in general, more short forms, especially so-called graphic short forms, occur in Austrian German. The next step is to examine the domains in which these short forms occur. The find part is dedicated to the short forms specific to Austrian German: short forms of personal names, legal German, "false friends", inherent variation, nonchalance, and short forms of short forms.


Helena Rohen

Kohärenzbrüche in Gesprächen mit Schizophrenen und ein Versuch zu ihrer Überbrückung

Abstract

Die Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt,

  • Kohärenzbrüche in Gesprächen mit Schizophrenen herauszufinden.
  • zu zeigen, dass durch eine nichtinvasive Gesprächsführung die Überbrückung der Inkohärenz im Laufe mehrerer Gespräche teil- oder zeitweise gelingen kann.

Unsere Gesprächsstrategie und unser Vorgehen dienen somit erstens dem Ziel, die schizophrene Inkohärenz zu typologisieren und zu charakterisieren, zweitens Mittel zu sein zu ihrer Überbrückung.

This investigation sets out

  • to find breaks in coherence in discussions with schizophrenia sufferers and
  • to show that a non-invasive form of discussion can help to bridge the incoherence partially or for some of the time over the course of several discussions.

Our discourse strategy and procedure have two aims: first of all to construct a typology and description of schizophrenic incoherence and secondly to be a means of bridging this incoherence.