Abstracts Deutsche Sprache 1/99

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Heide Wegener

Syntaxwandel und Degrammatikalisierung im heutigen Deutsch?

Noch einmal zu weil-Verbzweit

Abstract

Zunächst wird die These, die zunehmende Einleitung kausaler Verbzweitsätze durch weil stelle ein Beispiel für Syntaxwandel im heutigen Deutsch von der Subordination zur Koordination und damit einen Fall von Degrammatikalisierung dar, durch die Analyse größerer Korpora nord- und süddeutscher Sprecher aus vier Jahrzehnten widerlegt. Nicht die Syntax der Kausalsätze hat sich geändert, sondern nur ihr Konnektor: weil ersetzt denn. Die quantitative Analyse wird sodann ergänzt um eine qualitative, indem nachgewiesen wird, dass heutige weil-Sätze früheren denn-Sätzen in semantisch-pragmatischer Hinsicht voll entsprechen. Schließlich wird gezeigt, dass der Gebrauch von da, denn, weil-Verbletzt und weil-Verbzweit regelhaften Beschränkungen unterliegt, die durch die Thematizität bzw. Rhematizität von Bezugssatz und/oder Kausalsatz determiniert sind.

The claim that the increasing of weil-clauses with the verb in second position is an example of syntactic change from subordination to co-ordination in modern German and thus a case of degrammaticalisation is disproved in the first part of this article by an analysis of substantial corpuses of north and south German speakers from a period of four decades. It is not the syntax of the causal clauses which has changed, but only their conjunction: weil replaces denn. The quantitative analysis is then augmented by a qualitative one, in which it is shown that modern weil-clauses fully correspond to earlier denn-clauses in their semantics and pragmatics. Finally it is shown that the use of da, denn, weilwith the verb in final position and weil with the verb in second position is subject to regular restrictions, which are determined by the thematicity or rhematicity of the main clause and/or the causal clause.


Peter Colliander

Partikelvalenz im Deutschen

Eine prototypenlinguistische Studie über die Valenzverhältnisse bei den Präpositionen, den Subjunktoren und den Konjunktoren

Abstract

Der Begriff des Prototyps legt es nahe, von verschiedenen Graden der Valenz zu sprechen, je nachdem wie viele und welche der prototypischen Valenzeigenschaften vorhanden sind. Auf der Grundlage der Dependenz- und der Selektionsrelation - sowohl auf der Ausdrucks- als auch auf der Inhaltsseite versucht der Artikel nachzuweisen, dass es sinnvoll ist, von der Valenz der Präpositionen, in beschränktem Maße auch von der Valenz der Subjunktoren, jedoch nicht von der der Konjunktoren zu sprechen.

The term 'prototype' suggests various degrees of valency according to how many and which of the prototypical valency characteristics are present. On the basis of dependency and selection relationships on both the expression and the content side, this article attemps to prove that it is meaningful to speak of the valency of prepositions and in limited measure also of the valency of subordinating conjunctions but not of co-ordinating conjunctions.


Eva Lavric

folgender, obiger, letzterer, besagter, fraglicher, selbiger, ebendieser

Referenzsemantische Verschrobenheiten

Abstract

Im Bereich der Substantivdeterminanten ist das Deutsche besonders reich an jenen Kuriositäten, die ich als 'Textverweiser' bezeichnen möchte. Formen wie folgender, obiger, letzterer, besagter, fraglicher, selbiger, ebendieser leisten im wesentlichen nichts anderes als einen textphorischen Verweis, sei es nun eine Katapher im Fall von folgenderoder eine 'echte' ('treue') Anapher im Fall sämtlicher anderen Textverweiser. Genau diese Funktionen könnten aber ebensogut von einem Demonstrativum wahrgenommen werden. Warum es die Textverweiser dann überhaupt gibt und wozu sie von Sprechern und Schreibern verwendet werden, das sind Fragen an der Grenze von Stilistik und Referenzsemantik. Eine empirische Untersuchung zeigt, dass trotz vielfältiger Überschneidungen jede einzelne der oben genannten Formen über ihren ganz speziellen Einsatzbereich verfügt und dass auch bedeutende Unterschiede im Grad der stilistischen Markiertheit nachzuweisen sind.

In the area of noun determinants, German is particularly rich in curiosities which I would like to call 'text referers'. Forms such as folgender, obiger, letzterer, besagter, fraglicher, selbiger, ebendieser, essentially perform nothing other than a text-phoric reference, whether it is cataphoric in the case of folgender or 'genuinely' anaphoric in the case of all other text referers. However, precisely these functions could just as well be performed by a demonstrative. Why text referers exist in the first place and to what end they are used by speakers and writers are questions on the boundary between stylistics and reference semantics. An empirical investigation shows that despite various overlaps, each of the forms specified above has its own special area of application and that there are also important differences in the degree of stylistic markedness.


Ricarda Wolf

Soziale Positionierung im Gespräch

Abstract

Soziale Positionierung wird in diesem Beitrag als gesprächsrhetorisches Konzept entworfen. Im Mittelpunkt stehen sprachlich-interaktive Aktivitäten der sozialen Zuordnung im Gespräch, mit denen Gesprächsteilnehmer ihre Handlungsbedingungen kontrollieren. Diese Aktivitäten, die ich als soziale Positionierungen bezeichne, werden hinsichtlich ihrer interaktionsstrukturierenden Potenziale unter verschiedenen Kontextbedingungen untersucht. Durch diese gesprächsrhetorische Perspektive unterscheidet sich das Konzept von bisherigen psychologischen, soziologischen und linguistischen Zugängen zur Rolle des "Selbst" oder der Identität von Personen und deren Darstellung in der Interaktion.

This article outlines the concept of social positioning in discourse rhetorics, focusing on linguistic, interactive activities for establishing social relations in discussions, by means of which participants control the conditions of their actions. These activities, which I call social positioning, are examined with regard to their potential for structuring interaction in a variety of contexts. The perspective of discourse rhetorics distinguishes this concept from earlier psychological, sociological and linguistic approaches to the role of the "self" or the identity of persons and their representation in the interaction.