Abstracts Deutsche Sprache 1/97

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Rainer Rath

"Äusserungseinheit" oder "Möglicher Satz"?

Abstract

Eine kontrovers diskutierte Frage in der Gesprochene-Sprache-Forschung ist, wie und in welche Einheiten gesprochene Texte gegliedert werden: Syntaktische und interaktive Gliederungsansätze stehen sich gegenüber. Ziel des Beitrags ist es, die Wissenschaftsgeschichte der Thematik nachzuzeichnen und eine Auseinandersetzung insbesondere mit den jüngsten Arbeiten zu führen, in denen für die Segmentation von Texten von syntaktischen Kriterien ausgegangen und die syntaktisch bestimmte Größe "möglicher Satz" zugrundegelegt wird. Anhand authentischer Belege mit syntaxfernen Äußerungsteilen wird gezeigt, daß interaktive Kriterien (lexikalische Gliederungssignale, Sprechersignale, Hörersignale) für die Textgliederung nicht vernachlässigt werden dürfen. Als Fazit ergibt sich, daß alle gliederungsrelevanten Mittel gleichgewichtig bei der Bestimmung der Einheiten gesprochener Texte zu berücksichtigen sind und daß die interaktiv bestimmte Größe "Äußerungseinheit" beizubehalten ist.

A controversial issue in research on spoken language is how and in what units spoken texts are structured: syntactic and interactive structuring principles are in competition with one another. The aim of this article is to sketch the history of the subject and to argue against the position adopted in some recent publications, in which syntactic criteria are favoured and in which the analysis is based on the syntactically defined unit of the 'possible sentence'. Autenthic material with unclear syntactic structure is used to demonstrate that interactive criteria (lexical boundary signals, speaker signals, hearer signals) cannot be neglected in the structuring of texts. The conclusion is that all the different ways of structuring texts are equally important in determining the units of spoken texts, and that the interactively defined element 'utterance unit' should be retained.


Ulrich Ammon / Birte Kellermeier

Dialekt als Sprachbarriere passé?

25 Jahre danach: Versuch eines Diskussions-Erweckungsküsschens

Abstract

Die Thematik 'Dialekt als Sprachbarriere' spielt heute in Linguistik und Pädagogik praktisch keine Rolle mehr; stattdessen werden Dialekt und dialektsprechende Sozialmilieus idyllisiert. In Wirklichkeit haben sich jedoch die Verhältnisse, die von der Dialekt-als-Sprachbarriere-Diskussion der 70er Jahre kritisiert wurden nicht grundlegend geändert. Nach wie vor kommen in beträchtlichen Teilen des deutschen Sprachgebiets Kinder - aufgrund ihrer Sozialisation im Dialekt - mit geringen aktiven Fertigkeiten des Standarddeutschen zur Schule; dabei handelt es sich überwiegend um sozial benachteiligte Kinder; die Schule behandelt diese Kinder sprachlich und sprachdidaktisch unangemessen; sie sind daher im schulischen Selektionsprozess benachteiligt; außerdem vermittelt die Schule vielen dieser Kinder keine für das spätere Leben ausreichenden Fertigkeiten im Standarddeutschen. Eine neue empirische Untersuchung im Ruhrgebiet weist sogar für Kinder, die das dem Standarddeutschen verhältnismäßig nahestehende Ruhrdeutsch sprechen Schulschwierigkeiten nach. Daher wird die Wiederaufnahme der Diskussion um den Dialekt als Sprachbarriere gefordert. Dabei ist allerdings den Veränderungen - sowohl der Linguistik als auch der Stellung der Dialekte in der Gesellschaft - seit den 70er Jahren Rechnung zu tragen.

The topic 'dialect as a language barrier' has all but disappeared from the debate in linguistics and education; instead, dialects and dialect-speaking social milieus now tend to be portrayed in an idyllic light. In reality, however the conditions which were criticised in the dialect-as-a-language-barrier discussion in the 1970s have hardly changed at all. In large parts of the German-speaking countries there are still children who have grown up speaking dialect coming to school with a poor active command of Standard German. These are mainly socially disadvantaged children, whose needs ae not catered for by schools. For this reason they are disadvantaged in the selection process at school. Furthermore, schools do not provide many of these children with a knowledge of Standard German which is adequate for their later lives. A new empirical study in the Ruhr shows that even children speaking the Ruhr dialect, which is relatively close to Standard German, have problems at school For these reasons, the authors call for a renewal of the discussion on dialect as a language barrier. This discussion must however, take account to the changes which have taken place since the 1970s in both linguistics and in the position of dialects in society.


Ursula Bredel / Jeanette Dittmar

Strukturelle Planbrüche als Hinweise auf Registerkonflikte im Sprachgebrauch von Ostberlinern nach der Wende

Abstract

Untersucht werden von syntaktischen Regularitäten abweichende Äußerungen im Neuen Deutschland und im mündlichen Sprachgebrauch von Ostberlinern, die unter formalen Gesichtspunkten in vier Gruppen unterteilt werden. Die eruierten Abweichungen werden als Resultate eines Registerkonflikts im polititischen Umbruch gewertet. Sprachliche Ressourcen, die in der DDR die Verarbeitung von gesellschaftlich strukturierten Deutungsangeboten organisierten und die in den Beispielen aus dem Neuen Deutschlandveranschaulicht werden, werden in der mündlichen Bearbeitung neuer Erfahrungen aktiviert. Alte und neue diskursive Verfahren der Erfahrungsverarbeitung führen an der sprachlichen Oberfläche zu spezifischen kontaminativen Strukturen. In diesem Sinne deuten wir die strukturellen Planbrüche nicht als akzidentielle Formen gesprochener Sprache, sondern als ein typisches Problem in Umbruchsituationen.

This article is a study of syntactically divergent utterancaes in the newspaper Neues Deutschland and in the spoken usuage of East Berliners, who are divided into four groups on the basis of formal criteria. The rule breaches discovered are interpreted as the results of a conflict of register in the political context. Linguistic resources which in the GDR organised the processing of a socially structured range of interpretations and which are illustrated in the examples from Neues Deutschlandare used in the oral processing of new experiences. Old and new discursive strategies for processing experiences lead to specific structural contaminations in the linguistic surface structure. In this sense we interpret the violations of structural rules not as the accidental forms of spoken language, but as a typical problem in times of radical change.


Josef Schu

_telefon

Lexikalischer Wandel durch Wortbildung

Abstract

In den letzten Jahren hat sich eine Variante des Morphems /telefon/, wie es in den Wörterbüchern verzeichnet ist, herausgebildet. Sie ist gekennzeichnet (a) durch einen Bedeutungswandel zu "telefonisch Dienstleistungen erbringende Einrichtung" und (b) durch einen Statuswechsel zu einem gebundenen und positionsfesten Morphem. Der Befund beruht auf zwei empirischen Quellen: Texten in Papierform (hauptsächlich Zeitungsartikel und Anzeigen) sowie Dokumenten aus dem "World Wide Web". Verschiedene Gründe für den lexikalischen Wandel werden erörtert.

In recent years, a variant of the morpheme /telefon/ as codified in dictionaries has emerged. It is characterised (a) by a change in meaning to "institution performing a service by telephone" and (b) by a change in status to a bound and positionally fixed morpheme. The findings are based on two empirical sources: printed texts (mainly newspaper articles and advertisements) and documents from the "World Wide Web". The author discusses different reasons for the lexical change.